Logarithmische und projektive Zeitskalen in der Evolution.

[Auszug aus : Dieter Kötter: Von der Inneren Uhr der Evolution. Mathematische Aspekte logarithmischer und projektiver Zeitskalen. aus: Was ist Zeit? Hrsg. G. Kniebe, Stuttgart 1993]

"Der Prozeß der wirklichen Dinge macht also die Zeit ..." G.W.F.Hegel

Einleitung
Von Aristoteles stammt die Charakterisierung, die Zeit sei «die Zahl an der Bewegung »(1). Im Grunde genommen war das der Ausgangspunkt der physikalischen Zeitvorstellung. Die Zeit wird durch einem äußeren physikalischen Vorgang gemessen. das waren früher die nie starr ablaufenden rhythmischen Bewegungen von Sonne und Mond, später rein mechanische Bewegungen (zum Beispiel Pendeluhren). Schließlich wurden quantenmechanische Prozesse, die völlig unbeeinflußt von äußeren Verhältnissen abgelaufen (radioaktiver Zerfall, Atomuhr). Als Maßstab der Zeit festgesetzt, getreu dem Prinzip: «die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinem äußeren Gegenstand » (2). Die so definierte Zeit wurde dann immer mehr zu einem Gefäß, in dem alle Vorgänge - nicht nur physikalische - ablaufen sollen.
Die absolute Newton-Zeit ist zwar durch die Relativitätstheorie Einsteins entthront worden, nach der zueinander bewegte Körper eine eigene Zeit besitzen und es keine absolute Gleichzeitigkeit mehr gibt. An die Stelle der Zeit ist aber im Grunde genommen die Raum-Zeit als universelles Gefäß getreten. Außerdem spielen die Abweichungen der Eigenzeiten bewegter Körper bei normalen Geschwindigkeiten keine Rolle, so daß man sich nach wie vor eine absolute Zeit vorstellt, von der es eben nur manchmal kleine Abweichungen gibt.
Man kann die Frage aufwerfen, ob dieses physikalische Zeitmaß angemessen ist, um organische Entwicklungsprozesse zu beschreiben. Bei Ihnen hängt das, was äußerlich erscheint, eben nicht nur von äußeren physikalischen Vorgängen ab, sondern von Inneren Veränderungen, einer organischen Eigenzeit oder Inneren Uhr. Verliert man nicht die Wirklichkeit, wenn man die physikalische Zeit als universelles Gefäß verwendet, in dem alle Vorgänge des Welt Geschehens ablaufen sollen?
Der Philosoph Hegel hat sich klar gegen die Vorstellung der Zeit als «Gefäß» gewandt:
«In der Zeit, sagt man, entsteht und vergeht alles [... ] Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahieren, der alles gebärende und seine Geburten zerstörende Kronos [...]. Die Zeit ist nicht gleichsam ein Behälter, worin alles wie in einen Strom gestellt ist, der fließt und von dem es fortgerissen und hinuntergerissen wird. Die Zeit ist nur diese Abstraktion des Verzehrens. Weil die Dinge endlich sind, darum sind sie in der Zeit; nicht weil sie in der Zeit sind, darum gehen sie unter, sondern die Dinge selbst sind das Zeitliche; so zu sein ist ihre objektive Bestimmung. Der Prozeß der wirklichen Dinge macht also die Zeit.» (3)
Eine ähnliche Anschauung vom Wesen der Zeit findet man bei Rudolf Steiner:
«Aber die Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, daß die Tatsachen ihrem Inhalt nach voneinander in einer Folge abhängig sind [...]. Hier sehen wir, daß die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt an [... ].»(4)
Es erscheint daher berechtigt, ein Zeitmaß zu formulieren, das durch die Schritte der Evolution selber vorgegeben ist.
Die mathematische Formulierung birgt allerdings eine Gefahr. Sie beinhaltet immer eine Idealisierung und Universalität. Die folgenden Ausführungen sollen aber kein neues starres «Zeit-Gefäß» begründen! Vielmehr kommt es auf die Art der Beziehungen an, die zu einem organischen Zeitmaß führen. Dazu gehört zum Beispiel das in Abschnitt 3 und 4 dargestellte projektive Maß: der Logarithmus eines Doppelverhältnisses. Es bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten, inwieweit dadurch etwas vom Wesen der wirklichen Zeit im Sinne Hegels und Steiners zum Ausdruck gebracht es wird.
Stellt man die Evolution in dem gewöhnlichen sogenannten radiometrischen Zeitmaß dar, so erfolgen die bedeutenden Fortschritte in immer kürzeren Zeiten. W. Schad führt mehrere Beispiele dafür an (5). Natürlich liegt in der Auswahl von Zeitpunkten eine gewisse Willkür, aber an dem Phänomen der immer kurzer werdenden Zeitraume für innovative Evolutionsschritte ändert das nichts.
Wir suchen jetzt ein allgemeines Zeitmaß T, das, mathematisch idealisiert, proportional zu den Fortschritten der Evolution verläuft, das gewissermaßen die «Eigenzeit» der Evolution darstellt und viele verschiedenen lndividualisierungen zuläßt.
Es soll nämlich nicht eine Skala T als gleichsam neues Gefäß eingeführt werden, sondern wir sind der Meinung, daß für jeden Teilbereich eine eigene Individualisierung, andere Konstanten gefunden werden müssen. Die Kulturentwicklung der Menschheit verläuft zum Beispiel nach einem anderen «Schrittmaß» als die Evolution des gesamten Lebens. Jede Entwicklung schafft gewissermaßen ihre eigene Zeit. Ebenso wie die Eigenzeiten selber werden auch die Beziehungen der verschiedenen Zeitmaße untereinander und insbesondere die Beziehung einer organischen Zeit zur physikalischen nur durch «den Prozeß der Wirklichen Dinge» hergestellt. Die in diesem Aufsatz aufgestellten Funktionen T(t) organischer Zeitmaße in Abhängigkeit von der physikalischen (radiometrischen) Zeit sind in diesem Sinne nicht starr zu denken, sondern als mathematische Idealisierung solcher Beziehungen.
Verschiedene Autoren haben den Gedanken ausgeführt, daß organische Entwicklung und auch die Evolution nach einem logarithmischen Zeitmaß erfolgen soll (6).
Anfang der achtziger Jahre lernte der Autor eine Zusammenstellung der Evolution in logarithmischem Zeitmaß kennen, die D. Bosse angefertigt hatte (7). Sie war der eine Ausgangspunkt, die mathematischen Aspekte logarithmischer und verwandter Zeitmaße zu untersuchen. Der zweite Ausgangspunkt war eine Arbeit von P. Gschwind, in der er ein projektives Zeitmaß und physikalische Anwendungen beschreibt (8). In letzter Zeit hat auch G. Unger im Zusammenhang mit kosmologischen Fragen auf projektive Zeitmetriken hingewiesen (9).
Es es wird nun in Abschnitt 1 zunächst das logarithmische Zeitmaß dargestellt, welches ein Sonderfall des allgemeineren projektiven Maßes ist (Abschnitt 2 und 3).
In Abschnitt 4 wird gezeigt, daß das Wachstum eines individuellen Organismus durch eine Kombination aus projektivem und logarithmischem Zeitmaß beschrieben werden kann. Dies steht zur Eigenzeit der Evolution gewissermaßen in einem spiegelbildlichen Verhältnis (Abschnitt 5).
So wie bei individuellem Wachstum Zyklen beobachtbar sind, Scheint es auch Evolutionszyklen zu geben. In Abschnitt 6 wird versucht, diese Zyklen für die Evolution des gesamten Lebens zu skizzieren.
Der Autor hofft, daß die vorliegende Arbeit auch für Nichtmathematiker lesbar ist. Aus diesem Grund wurden viele graphische Darstellungen aufgenommen. Man kann dann die mathematischen Herleitungen auslassen und sich trotzdem ein Bild von den Ergebnissen machen. Als Einführung in die Eigenschaften des Logarithmus sei auf die Schrift von Ernst Bindel, Logarithmen für jedermann hingewiesen (10).


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